Leseprobe

Vom roten Faden, den ein Mensch durch sein Leben zieht

Über das Wesen der Biographie

…..Unsere Biographie ist der Dialog unseres individuellen mit unserem universellen Selbst. Die Selbstgestaltung unseres Wesens ist der über die Inkarnationen schwingende Atem, der sich in die leiblich-individuelle ein- und die geistig-universelle Existenz ausatmet. Die Schätze, die wir aus der Vergangenheit einer vorausgehenden Verkörperung in unsere jetzige Verleiblichung hereintragen, sind das Unterpfand neuer Bereicherung aus dem Ewigen, die uns diesmal aufgetragen ist. Das Ewige, das wir in unsere Individualexistenz einatmen, ist nach seiner Ausatmung in unsere Universalexistenz dazu bestimmt, in dieser einen neuen Schicksalsplan zu veranlagen. Mehret die Schätze, die euer Selbstvermächtnis aus der Vergangenheit sind, durch das Ewige, das sich euch in der Gegenwart offenbart, damit daraus die Saaten des Künftigen für eine neue Menschheitsernte reifen mögen.

Herbert Witzenmann in der Basler Zeitung, Forum

20. Juli 1981

Die Tugenden

 

Januar

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21. Dezember bis 21. Januar

Kein Beginn ohne Mut. Kein Mut ohne Wahrheit.

Die Quelle des wahren Mutes ist ein Erlebnis, das Vergangenheit und Zukunft zusammenfasst; denn die Wahrheit ist nicht an die Zeit gebunden. Aus dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt bringen wir in das vor uns liegende Erdenleben den Trieb mit, die Folgen unserer Taten in einem früheren Erdenleben zu verbessern. Dieser Gedanke, der sich der Vergangenheit zuwendet, verbindet sich mit einem Zukunftsgedanken: die Früchte eines vergangenen Lebens werden dem geistigen Keim der Menschen einverleibt, reifen in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt und werden in einem neuen Leben, zu Anlagen und Fähigkeiten umgestaltet, erscheinen. In der Durchdringung dieser beiden Gedanken wird die Gegenwart zum Augenblick des Mutes. Ein solcher Mut, der im inneren Erleben vorgeübt, in der Schicksalserfahrung ausgeübt wird, führt zum Erlebnis der Unsterblichkeit. Es ist das vertrauende Bewusstsein, dass in einem früheren Leben die Kraft gebildet wird, die in den Schicksalen eines späteren Lebens den Erlebenden vor dessen Vorfälle stellt. Dieser Mut wird zum Erlöser aus der Hinfälligkeit des toddurchdrungenen Leibes. Er wird aber auch in der Begegnung mit schicksalverbundenen Menschen als der Träger dieses Unsterblichkeitsbewusstseins für diese zu dessen Erwecker.

Er wird zur Erlöserkraft

Eine Meditation, die diesen erlösungskräftigen Mut bestärkt, ist die Versenkung in das Schicksal als eine Folge selbstzugefügter Ereignisse.

 

Februar

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21. Januar bis 21. Februar

Wer im Schicksalvertrauen die Unvergänglichkeit des eigenen wahren Wesens erfahren hat, wird schweigsam.

Die wahre Verschwiegenheit ist die biblische Metanoia, die Umkehr der Gesinnung, auch Reue genannt. Denn das Gegenteil der Schweigsamkeit ist die Hingabe an die Sinne. Die unsterbliche Mutkraft, die der Mittelpunkt unseres Wesens ist, verliert in der Hingabe an die Sinne, in der Mitteilung nach außen das Bewusstsein ihrer selbst. Durch die Umkehr dagegen wird sie ihrer selbst inne. Schweigen ist daher Kraftsammeln. Es ist die Hülle um das Geistige in uns, das in den Bildern der Sinneswelt und ihrer Sprache nicht mitteilbar, dem nach außen gewandten Ohr nicht erlauschbar ist. Die Schweigsamkeit ist der Schutz, der das Geistige als unantastbares Geheimnis der Seele bewahrt. Die Verschwiegenheit ist würdig, Träger dieses Geheimnisses zu sein. Sie enttäuscht das Vertrauen, das ihr die geistige Welt und die Menschen gewähren, nicht, da sie es in den Seelenbezirk aufnimmt, der von der Umkehr (unseres verlangenden Wesens) behütet wird. Die Verschwiegenheit ist die Kraft, durch die sich die Seele selbst ergreift und nicht als eine Angehörige der sinnlichen, sondern der geistigen Welt erlebt.

So wird sie meditative Kraft.

Eine Meditation der Schweigsamkeit ist: Ich bin ein Gedanke, der von den Hierarchien des Kosmos gedacht wird.

 

März

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21. Februar  bis 21. März

Im  Schweigen wird die Stimme des Geistes als die Stimme des eigenen wahren Wesens vernommen. Dieses Vernehmen ist der Sinn für Individualität. Dieser Sinn ist Großmut.

Großmut ist der große Sinn, der voll Interesse und Achtung jeder anderen Wesensäußerung in sich Raum gibt. Jede Individualität gilt diesem Sinn als der unantastbare Ausdruck des Geistes im Innersten jedes Menschen. Dieser Sinn fühlt sich für jede andere Individualität wie für das eigene höhere Wesen verantwortlich. Das Erlebnis der Solidarität ist für die Großmut kein subjektives. Vielmehr hat es ihr die objektive Bedeutung der Verantwortlichkeit für den Geist, dem die Individualitäten gemeinsam entstammen, aus dem heraus sie sich verselbständigen und den sie auf der höheren Stufe freier Gemeinschaft untereinander zu verwirklichen berufen sind. Die Großmut kann daher nicht anders, als sich mit jeder Individualität, die sich wahrhaft als solche, wenn auch noch so ungewohnt, darlebt, in freier Neigung zu verbinden.

So wird sie zur Liebe

Eine Meditation solcher Großmut ist die Versenkung in das Unrecht, das einer anderen Individualität geschah, das man wie ein selbsterfahrenes vergibt, indem man sich unablässig für seine Wiedergutmachung einsetzt.

 

April

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  • 21. März bis 21. April

Die Liebe, die in der Verantwortung für jede Individualität sich selbst als Glied einer freien Gemeinschaft erlebt, ist Devotion.

In der Devotion wird das Wesen des lebendigen Denkens erfahren, des Geistes, der in uns als Individualität lebt. Im lebendigen Denken entwickeln wir nicht unsere subjektiven Gedanken, denkt vielmehr der Geist durch uns die Gedanken, die den Wesen einwohnen. Der Geist tut dies aber nicht als unser Überwältiger, sondern indem wir uns mit ihm in der freien Tat, die zugleich Erschauen ist, vereinigen. In der Ehrfurcht vor dem Geiste in uns und in allen Wesen richten wir uns zu ethischem Individualismus auf. Der Inhalt dieser Ehrfurcht unterscheidet sich aber, je nachdem, ob sie den Naturwesen oder den Menschen gilt. Die Naturwesen erkennen wir durch unsere, die Menschen durch ihre eigenen Gedanken. Indem wir nicht unsere subjektiven Gedanken über andere Menschen, sondern in Hingabe deren eigene Gedanken denken, wird unsere eigene Individualität zum Träger einer anderen Individualität. Da im Denken alle Äußerlichkeit überwunden wird, verlieren wir uns in dieser anderen Individualität, um uns in ihr wiederzufinden. Derart wird die Freiheit zur Gemeinschaft für die Devotion.

So wird diese zur Opferkraft.

Eine Meditation solcher Devotion ist die Versenkung in die Bilder des Verlierens und Wiederfindens im Leben der Menschheitsführer. (Buddha wird unter dem Baum mit den Sängern, der zwölfjährige Jesus im Tempel unter den Lehrern wiedergefunden.)

 

Mai

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21. April bis 21. Mai

Die Opferkraft der Devotion, welche Freiheit als Gemeinschaft erlebt, wird zur Erfahrung des Gleichgewichts.

Denn diese Opferkraft erlebt Gleiches durch Gleiches, Geistiges durch Geistiges, Individualität durch Individualität. Dieses Erlebnis liegt jeder Erkenntnis zugrunde. Wir finden erkennend durch den eigenen Geist zu dem Geiste, der in den Welterscheinungen liegt. Durch eine nur abbildende, empfangende Erkenntnis wäre dies nicht möglich. Eine solche verbliebe ausserhalb einer Wirklichkeit, die ohne ihre Beteiligung fertig wäre. Ein wahres Erkennen fügt aber durch einen schöpferischen Akt die Ideen zu den Wahrnehmungen hinzu, die für das menschliche Erfahren zunächst ideenlos sind, und begegnet dadurch dem in den Wahrnehmungen zunächst verborgenen Geiste. So entsteht die Wirklichkeit in jeder wahren Erkenntnis aus einer Erfahrung, die sie zunächst verbirgt. Sie entspringt dem Gleichgewichtserlebnis der Begegnung von Geist zu Geist. Indem der erkennende Mensch die Wirklichkeit, die er in den Wahrnehmungen verliert, zurückgewinnt, erlebt er zugleich das Entstehen seiner eigenen geistigen Wesenheit. Der Wirklichkeit, die in seinem Erkennen entsteht, entstammt der Mensch als ein geistiges Wesen, das selbst über seine Geistgeburt und seine Höherentwicklung entscheidet. Das Erkennen von Gleichem durch Gleiches, das sich als das Hervorgehen einer selbständigen Individualität aus den geistig durchdrungenen Welterscheinungen darstellt, ist das wahre Gleichgewicht.

So wird es zum Fortschritt.

Eine Meditation solchen Gleichgewichtes ist die Versenkung in das Gehenlernen der Kinder, welches Gleichgewicht zum Fortschritt werden lässt.

 

Juni

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21. Mai bis 21. Juni

Das als Fortschritt erlebte Gleichgewicht ist Ausdauer.

Denn nur wer unermüdlich die Welterscheinungen mit dem eigenen Wesen durchdringt, schreitet zu dessen wahrer Gestalt fort. Dieser Fortschritt beginnt keineswegs erst dort, wo er für die Selbstbeobachtung voll durchschaubar wird. Vielmehr liegt jeder Ausdauer als ihr wahrer Antrieb die Tatsache zugrunde, dass alle Tätigkeit mehr oder minder bewusst aus der Urtätigkeit des Denkens entspringt, dass der Erfolg jedes nach aussen gerichteten Tuns auf der Begegnung des eigenen Geistes mit dem Geiste, der in den Dingen liegt, beruht und dass wir dabei nicht nur den Gegenstand unserer Tätigkeit, sondern auch uns selbst gestalten. Darauf beruht ja alles Lernen und Können. Dies ist der Sinn von Hegels Ausspruch: „Der Bildende bildet sich selbst.“ In der Ausdauer sind wir daher dem in uns gelegten Auftrag der Selbstbildung treu. Solche Treue aber befähigt uns auch erst, einer Aufgabe, einem Menschen wahrhaft treu zu sein. Denn treu ist, wer in dem unablässigen Werk, das er an sich selbst vollbringt, erfüllt, was er der Welt und den ihm schicksalverbundenen Menschen schuldet.

So wird Ausdauer Treue.

Eine Meditation solcher Treue ist der Prolog des Johannesevangeliums. (Denn er kündet von dem Wort, das wir in uns vernehmen, wenn wir uns selbst, wenn wir anderen, wenn wir unserer Aufgabe im Durchhalten gegen alle Widerstände treu sind.)

 

Juli

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21. Juni bis 21. Juli

Solche getreue Ausdauer ist selbstlos.

Wahre Selbstlosigkeitist gleich weit entfernt von Verhärtung und Auflösung. Die schwelgerische Abhängigkeit ist nicht weniger selbstsüchtig als das starre Beharren auf den eigenen Vorurteilen und Interessen. Wahre Selbstlosigkeit verteidigt weder die Enge der subjektiven Persönlichkeit, noch verliert sie sich an andere Menschen und Dinge. Sie ist vielmehr die Mitte zwischen diesen beiden Abwegen und Versuchungen. Da sie weder durch die Selbstsucht der Furcht noch durch jene der Gier getrübt wird, ist sie lauter. Die Läuterung ist der Weg, der durch die Wahrheit, die mit allen Wesen verbindet, die Furcht überwindet und durch inneres Leben, das von aller abhängigen Gier befreit, sein Ja zum Schicksal sagt. Diese Selbstlosigkeit, die derart durch Rücksichtnahme und Verzicht sich selbst findet, ist selbstsicher. Aristoteles bezeichnet durch seine Idee der Läuterung (Katharsis) die Einweihung in den Schicksalsweg als die Aufgabe des Dichters. Diese Katharsis wird durch Überwindung und Verwandlung der Gefahren errungen, welche die menschliche Mitte bedrohen

Die Selbstlosigkeit als der Weg zur menschlichen Mitte wird Katharsis.

Eine Meditation solcher Selbstlosigkeit ist das Wort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“

 

August

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21. Juli bis 21. August

Solch geläuterte Selbstlosigkeit ist wahres Mitleid.

Wahres Mitleid erlebt jedes Leid als das eigene, ohne die Selbstständigkeit im besonnenen Urteil zu verlieren. Selbstständigkeit kann vielmehr nur im Mitleid ihren Ursprung haben. Denn Mitleid ist geistige Vereinigung. Alles aber, was uns äußerlich bleibt, übt Einfluss oder Zwang auf uns aus. Im Bewusstsein eines Menschen, das mit dem unseren nicht durch das zwischen uns webende Mitleid verbunden ist, leben wir nicht als freie Individualitäten. Denn ein solcher Mensch meidet uns oder möchte uns (wenn auch in einer ihm selbst vielleicht nicht bewussten Form) von sich abhängig machen. Ebenso können wir uns von einem Menschen, dem wir ohne Mitleid entgegentreten, nur abwenden oder auf ihn in irgendeiner Form Macht ausüben. Von einem Menschen, dem wir die Gesinnung der Bemächtigung entgegenbringen, sind wir aber nicht weniger abhängig als von einem solchen, den wir fliehen. Natürlich ist hier nicht von äußerem Verhalten, sondern von Bewusstseinshaltungen die Rede. Dort aber, wo wir uns geistig vereinigt haben, können wir weder Gegenstand einer Machtausübung werden, noch üben wir selbst Macht aus. Wir können es nicht, da unser eigenes Wesen und das mit ihm vereinte nicht Ziel unserer Macht sein kann. Daher schließt Erkenntnis Macht aus und ist Mitleid eine Form des Erkennens. Auch in der mitleidenden Vereinigung mit dem Verabscheuungswürdigen, die ja eine ganz innerliche ist, erniedrigen wir uns nicht. Vielmehr befreien wir dadurch das in ihm wie in jedem Niedere verborgene Hohe, dessen es nur selbst nicht bewusst wird. Wahres Mitleid macht uns daher nicht nur selbst frei, sondern befreit auch jene, die es umfasst.

So wird es zur Freiheit.

Eine Meditation solchen Mitleids ist: Das Mitleid ist die Hülle, in der das freie Herz schlägt.

 

Aus „Die Tugenden“ von Herbert Witzenmann

Gideon Spicker Verlag